Zwischen Standardisierung und pädagogischem Spielraum - Wie bilden Lehrkräfte Zeugnisnoten?

Krüll, Carolin; Gruehn, Sabine; Diekmann, Marius;

Poster

Abstract

Krüll, Carolin; Diekmann, Marius & Gruehn, Sabine Zwischen Standardisierung und pädagogischem Spielraum – Wie bilden Lehrkräfte (Zeugnis-)Noten? Abstract: (587/600 Wörtern exkl. Literatur) Schulische Reformen der letzten Jahre – nicht zuletzt initiiert durch die Ergebnisse (inter-)nationaler Schulleistungsstudien – richten sich u.a. darauf, den Grad der Standardisierung und Vergleichbarkeit schulischer Leistungen zu erhöhen (Demmer, 2014; Kirk, 2004). Dabei nehmen sie jedoch nicht den gesamten Bereich schulischer Leistungen und Prüfungen in den Blick, sondern fokussieren vor allem den schriftlichen Bereich. Mündliche oder sonstige Leistungen und Prüfungen werden von solchen Reglementierungen eher ausgenommen, weil Lehrkräften hier aus verschiedenen Gründen mehr Freiraum zugestanden wird: So bedingt die Flüchtigkeit und Einmaligkeit unterrichtlicher Kommunikation, dass nicht immer allen Schüler:innen in gleicher Weise Teilhabe und Mitwirkung am Unterricht ermöglicht wird (Abraham, 2016). Zudem können hier individuelle Besonderheiten und Entwicklungen gewürdigt sowie die möglicherweise weniger zufriedenstellenden Ergebnisse punktueller schriftlicher Leistungsüberprüfungen durch kontinuierliche Mitarbeit im sonstigen Bereich ausgeglichen werden (Krieger, 2003; Kirk, 2004). Dieses spiegelt sich auch in den für die sonstigen Leistungen – im Vergleich zum schriftlichen Leistungsbereich – recht vagen administrativen Vorgaben wider und gewährt damit einen großen pädagogischen Freiraum. Daher stellt sich die Frage, in welcher Weise Lehrkräfte diesen pädagogischen Freiraum nutzen und ihn gegenüber den Forderungen nach möglichst vergleichbaren und einheitlichen Bewertungskriterien abwägen. Auch liegen zur Bewertung sonstiger Leistungen statt empirischer Studien vornehmlich Ratgeber für Lehrkräfte vor (Disselkamp, 2004; Souvignier & Förster, 2014; Wirtz-Kaltenberg, 2018). Und die wenigen Studien zur mündlichen Mitarbeit sind entweder schon über 20 Jahre alt (Langhammer, 1997; Krieger, 2003) oder genügen selten wissenschaftlichen Standards (Kirk, 2004; Mangold, 2016). Der vorliegende Beitrag soll daher explorativ folgenden Forschungsfragen zur Bewertung sonstiger Mitarbeit nachgehen: 1. Bewerten Lehrkräfte die sonstigen Leistungen (und hier insbesondere die mündliche Mitarbeit) ihrer Schüler:innen nach einheitlichen und für alle gleichen Kriterien? 2. Falls nein: In welcher Weise und zu welchem Zweck weichen Lehrkräfte von ihren Bewertungsschemata ab? Inwieweit nutzen sie den ihnen zur Verfügung stehenden Freiraum bei der Bewertung sonstiger Leistungen für individuelle Besonderheiten? 3. Wie bilden Lehrkräfte die Zeugnisnote aus den schriftlichen Arbeiten und den sonstigen Leistungen? Datenanlage und Methode Die Daten entstammen einem Projekt, das die Bewertung mündlicher Mitarbeit als Form der sonstigen Leistungen untersucht hat. Hierfür wurden im Frühjahr 2020 Deutsch- und Mathematiklehrkräfte der Sekundarstufe I an Gymnasien mit Hilfe eines Fragebogens befragt. An der Befragung beteiligten sich insgesamt 272 Lehrkräfte (153 für Mathematik und 119 für das Fach Deutsch) (Krüll, 2023). Der Fragebogen enthält sowohl offene als auch geschlossene Fragen. Der ersten Frage zur Standardisierung bzw. Individualisierung wird vornehmlich mit geschlossenen Fragen nachgegangen. Beispiel: „Die Kriterien zur Bewertung mündlicher Mitarbeit sind… a) …für alle Schüler:innen (in etwa) gleich b) …für jede:n Schüler:in sehr individuell“ Aspekte zur Anwendung von Ausnahmereglungen von der üblichen Bewertungspraxis werden für die angelegten Kriterien sowie für die Gewichtung der sonstigen Leistungen innerhalb der Zeugnisnote offen erfragt. Beispiel: „Welche Ausnahmen gibt es und wie verändern sich dabei die Anteile der Leistungsbereiche an der Jahreszeugnisnote?“ Für die Bildung der Zeugnisnote werden sowohl geschlossene wie auch offene Fragen verwendet. Beispiel 1: Schieberegler, auf dem in 5% Schritten der Anteil sonstiger Leistungen an der Zeugnisnote zwischen 0% und 100% angegeben werden kann Beispiel 2: (offene Frage): „Wie bilden Sie die Jahreszeugnisnote für Ihre Klasse?“ Die geschlossenen Antworten werden deskriptiv und die offenen mithilfe der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet (Kuckartz, 2018; Mayring, 2015). Ergebnisse Erste Auswertungen zeigen, dass Lehrkräfte eher darum bemüht sind, die Schüler:innen nach gleichen Kriterien zu bewerten (87 %), hiervon jedoch gelegentlich abweichen (84%). Ausnahmen werden beispielsweise für die sogenannten „stillen Schüler:innen“ bezüglich der Gewichtung sprechsprachlicher Leistungen gemacht. Die Zeugnisnote wird auf Basis vieler dokumentierter Einzelbewertungen erstellt, wobei die sonstigen Leistungen im Schnitt 44 % der Note ausmachen. Angaben dazu, wie die Zeugnisnote konkret gebildet wird, werden im Poster ausführlicher dargelegt. References Abraham, U. (2016). Sprechen als reflexive Praxis. Mündlicher Sprachgebrauch in einem kompetenzorientierten Deutschunterricht (2. überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Fillibach bei Klett. Demmer, M. (2014). Die Aufgaben der Schule zwischen Anspruch und Realisierbarkeit. Ein kritischer Blick auf die Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre. In Raabe Fachverlag für Bildungsmanagement (Hrsg.), Leistung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Wohin geht Schule? (S. 7–26). Stuttgart: Raabe. Disselkamp, C. (2004). „Sonstige Mitarbeit“ – zwischen Angebot und Bringschuld. Der alterssprachliche Unterricht Latein/Griechisch, 47(6), 53–55. Kirk, S. (2004). Beurteilung mündlicher Leistungen. Pädagogische, psychologische, didaktische und schulrechtliche Aspekte der mündlichen Leistungsbeurteilung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Krieger, R. (2003). Das sogenannte Mündliche: eine Befragung von Beurteilten und Beurteilern zur Praxis und Problematik der Bewertung mündlicher Leistungen. Bildung und Erziehung, 56(1), 75–92. Krüll, C. (2023). Wie erfassen und bewerten Lehrkräfte mündliche Mitarbeit? (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster: Bd. 25). Hildesheim, Zürich, New York: OLMS. Kuckartz, U. (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung (4. Aufl.). Weinheim: Beltz Juventa. Langhammer, R. (1997). Mündliche Noten. Ergebnisse einer Umfrage unter Lehrkräften und Schülern. In M. Pabst-Weinschenk, R. W. Wagner & C. L. Naumann (Hrsg.). Sprecherziehung im Unterricht (Sprache und sprechen: Bd. 33, S. 80–93). München: E. Reinhardt. Mangold, A. (2016). Die Bewertung mündlicher Mitarbeit – eine empirische Studie zu Anspruch und Wirklichkeit der schulischen Bewertungspraxis (Wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien im Fach Erziehungswissenschaften). Universität Kassel. Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (12., überarbeitete Auflage). Weinheim und Basel: Beltz. Souvignier, E. & Förster, N. (2014). Die Bewertung "sonstiger Mitarbeit". Unterricht und Bewertung. Schulmagazin, 6(6), 7–14. Wirtz-Kaltenberg, P. (2018). Die "Sonstige Mitarbeit" bewerten. Schülereinschätzungen als Basis für eine faire und transparente Notengebung. Der fremdsprachliche Unterricht. Spanisch., 16(63), 30–33. ​​​​​​​

Details zur Publikation

Release year: 2023
Language in which the publication is writtenGerman
Link to the full text: https://drive.google.com/file/d/1ePsUEYxiJj8ZTkjaVMoER0640cwGUhgd/view?usp=drive_link