Aesthetic Configurations in Eastern and Central European Modernity

Basic data for this project

Type of project: Individual project
Duration: 01/09/2020 - 31/08/2025

Description

I. Zeiten(w)ende: Figurationen von Apokalypse und Revolution In dem Poem „Dvenacat’“ (1918, „Die Zwölf“) des russischen Symbolisten Aleksandr Blok marschiert Christus an der Spitze eines Zuges revolutionärer Rotarmisten. Diese Konstellation ist exemplarisch für das zu untersuchende Phänomen: Blok hatte zu Beginn des Jahrhunderts apokalyptische Heilserwartungen mit der Evokation einer „Schönen Dame“ in seinem gleichnamigen Gedichtzyklus Stichi o prekrasnoj dame (Verse von der schönen Dame, 1904) verbunden. Anstelle der dort artikulierten Vorstellung vom Ende der Zeiten und dem damit anbrechenden ewigen Heil steht nun eine entsprechende, auf die Revolution gerichtete Erwartung. Es geht zunächst um die Reflexion dieses Kippmoments zwischen eschatologischer und revolutionärer Perspektive und dann um die Frage, welche Rolle dem Modus des ästhetischen zugemessen wird, wenn in heilsgeschichtlicher und/oder (sozial)revolutionärer Erwartungshaltung eine Umkehr der Zeiten – in wörtlichem Sinne – ins Werk gesetzt wird. Sowohl der Apokalyptik wie der Revolution liegt die Denkfigur eines radikalen Umbruchs zugrunde, der zu einer (ge)heil(t)en Welt führen soll. Zu fragen ist, inwieweit gerade die ästhetisierung es ermöglicht, die Denkfigur einer totalen Zeitenwende aus einem heilsgeschichtlichen, auf Transzendenz orientierten Weltmodell herauszulösen und in ein Modell zu integrieren, das die diesseitige Verwirklichung einer utopischen Idee erstrebt. Die überlegungen schließen an jüngere Ansätze innerhalb der Kulturwissenschaften im Zuge des religious turn an, die auf die weitere Wirksamkeit religiös geprägter Denkfiguren über die Säkularisation hinweg aufmerksam gemacht haben. Der von apokalyptischen Denkfiguren gesättigte russische Symbolismus soll dabei komparatistisch in Beziehung gesetzt werden zu anderen Denkbewegungen, die wie die frühe Kulturwissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts (Kracauer, Benjamin, Mannheim) mit der Figur der Zeitenwende arbeiteten. So band Siegfried Kracauer in seinen Denkbildern zur Großstadtwelt der Moderne die Hoffnung auf einen Moment des Umschlags, in dem es zu kollektiver politischer Bewusstwerdung kommt, an profane, im Kapitalismus aber in sakraler Manier gestaltete Orte wie das Kino. Das Verhältnis von apokalyptischem, messianischem und revolutionärem Denken ist insofern in einem größeren, für die Moderne prägenden und gesamteuropäischen Zusammenhang zu beleuchten. II. Prager Moderne(n) Die Untersuchungen des Forschungsschwerpunkts „Prager Moderne(n)“ gelten der deutsch- und tschechischsprachigen Literatur und Kultur Prags um die Jahrhundertwende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und betrachten sie vergleichend im Hinblick auf Austausch- und Abgrenzungsprozesse. Den Bezugsrahmen bildet dabei materialiter die Stadt Prag, die aber in den verschiedenen kollektiven Identitätsdiskursen unterschiedliche symbolische Zuschreibungen erhält. Hinzu kommt die jeweilige Situierung mit Blick auf die die Zeit prägenden zivilisatorischen Modernisierungsprozesse, wobei die Reaktionen der Zeitgenossen sich in einem breiten Spektrum bewegen: von Affirmation über kritische Reflexion, die häufig in eine krisenhafte Zeitdiagnose mündet, bis hin zu Ablehnung. äußerungen des literarischen Diskurses im weitesten Sinne, also literarische, literatur- und kulturkritische Texte der Zeit, setzen – so die Grundannahme – auf explizite oder implizite Weise die eigene (Prager, deutsch-Prager, tschechisch-Prager oder in einem weiteren Sinne auch böhmische) Position zum Phänomen der Moderne in Beziehung. Der im Projekttitel in Klammern gesetzte Plural der Prager Modernen markiert insofern die Frage, ob sich von einer spezifisch Pragerischen Ausprägung der Moderne sprechen lässt oder ob dort heterogene, nicht unbedingt jedoch entlang der nationalen Zugehörigkeit zu differenzierende Moderne-Auffassungen nebeneinander existierten. Ein Schwerpunkt soll in den kommenden Jahren auf dem Themengebiet Prag im | Feuilleton | in Prag liegen, dem 2018 bereits eine Konferenz im Rahmen des Forschungsverbundes „Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n)“ gewidmet war. Das Feuilleton der Prager Zeitungen beider Sprachen ist sowohl Reflexionsort wie auch ‑medium von Austausch und Abgrenzung zwischen beiden kulturellen Sphären. Nimmt man die Feuilleton-Beiträge in den deutsch- und tschechischsprachigen Periodika als kulturhistorische Quelle, so lässt sich hieran die wechselseitige Wahrnehmung und Resonanz auf kulturelle Ereignisse eruieren, etwa in Theater- und Literaturkritiken, aber auch in der Präsentation von übersetzungen aus der neueren oder älteren Literatur der jeweils anderen Sprache. Hinzu kommen essayistische Texte, denen die jeweilige Einschätzung zeitbedingter Phänomene entnommen werden kann. Gerade an den kleinen, oft markanten Texten aus der Feuilleton-Rubrik lässt sich die Grundfrage des Forschungsschwerpunkts Prager Moderne(n) behandeln: Wie positionieren sich verschiedene Akteure der Prager Kulturszene zu den zivilisatorischen Erscheinungen der Moderne? Wie wird Moderne in den Beiträgen diskursiviert? Insofern ist den Feuilleton-Beiträgen in beiden Sprachen nicht nur die wechselseitige Wahrnehmung und Beurteilung kultureller Erscheinungen zu entnehmen, sondern auch die jeweilige Positionierung innerhalb der Moderne. Das Feuilleton kann dabei als genuin moderne Gattung gelten, nicht nur weil es im Zusammenhang mit dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich rasant entwickelnden Zeitungswesen entsteht, sondern auch, weil ihm der Modus der Selbstreflexivität immer schon eingeschrieben ist: Diese Reflexion richtet sich sowohl auf die spezifische Produktionsweise und das spezifische Medium der Zeitung, als auch auf das Schreiben im Angesicht der sich verändernden Wahrnehmungsbedingungen in der Moderne. Feuilletonistisches Schreiben sucht, oft mit phantasievollen und spielerischen Formen des Arabesken und Ornamentalen, insbesondere Detailbeobachtungen ein Signum der Zeit abzugewinnen. Wenn also Feuilletons die Erfahrungen der Moderne auf ihre spezifische Weise verdichteten und sich diesen kleinen Texten insofern eine Kulturpoetik der Moderne ablesen lässt, gilt dies für die spezifische Situation in Prag und die unterschiedlichen Positionierungen zur Moderne umso mehr. Dabei kann es im Prager bzw. böhmischen und mährischen Feuilleton sowohl um die Reflexion kultureller Entwicklungen oder Ereignisse direkt vor Ort gehen, als auch um Betrachtungen, die einen größeren Horizont entfalten. Auch das Spannungsverhältnis von Austausch und Abgrenzung zwischen der deutsch- und tschechischsprachigen Kultur spiegelt sich im Feuilleton bzw. in der Art und Weise, wie bzw. ob über die jeweils anderssprachige Kultur geschrieben wird und wie zeitgeschichtliche Ereignisse eingeordnet werden, die im Zusammenhang mit der mehrsprachigen und mehrkulturellen Situation stehen. An Feuilleton-Texten beider Sprachen können insofern sowohl wechselseitige Wahrnehmungen und Einschätzungen verdeutlicht werden, als auch Parallelen oder Unterschiede in der Beurteilung exemplarischer Phänomene der Moderne. Das Mit-, In- und auch Gegeneinander von Deutschen und Tschechen in der Stadt Prag der Zeit tritt im Feuilleton besonders deutlich zutage. III. Literaturtheorie in verflechtungsgeschichtlicher Perspektive Im Zentrum des gemeinsam mit Prof. Dr. Schamma Schahadat (Tübingen) und PD Dr. Michał Mrugalski (Tübingen) geleiteten Projekts steht ein forschungsorientiertes Handbuch mit dem Titel Literary Theory between East and West. Transcultural and Transdisciplinary Movements from Russian Formalism to Cultural Studies (de Gruyter). Während es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen den Kulturen des deutschsprachigen Raums, Polens, der Tschechoslowakei und Russlands intensive intellektuelle Bewegungen gab, die ein gemeinsames theoretisches Feld erzeugten, war dieser Austausch im weiteren Verlauf des Jahrhunderts aufgrund der politischen Rahmenbedingungen über lange Zeiträume hinweg nur eingeschränkt möglich, so dass große Teile (ost)mitteleuropäischen Denkens und Wissens in Westeuropa und im anglo-amerikanischen Bereich nicht oder nur wenig zur Kenntnis genommen wurden. Einige der Theorien gelangten allerdings durch exilierte Wissenschaftler/innen in den westlichen literaturtheoretischen Diskurs, wo sie teilweise in neuen kulturellen Kontexten transformiert wurden. Ein Beispiel ist Michail Bachtins Dialogizitätskonzept, das im Kontext des französischen Poststrukturalismus zur Intertextualitätstheorie geweitet wurde, ein anderes der Rückgriff der Konstanzer Rezeptionsästhetik auf die Weiterentwicklungen von Roman Ingardens Konzept der Konkretisation im Prager Strukturalismus. Solche verflechtungsgeschichtliche Dimension der mittel- und osteuropäischen Theoriebildung, ihre Bewegungen, Dialoge, Usurpationen bzw. Transformationen macht das Handbuch sichtbar. Im Anschluss und über den Rahmen des Handbuchs hinausgehend gilt das Forschungsinteresse dem größeren europäischen (kultur-)philosophischen Diskussionszusammenhang, in dem innovative Literaturtheorien wie der russische Formalismus und der tschechische Strukturalismus entstanden, aber auch der in Mittel- und Osteuropa starken Ausprägung phänomenologischer Ansätze, außerdem den Positionen, die dabei zum Wechselbezug von theoretischer Reflexion und künstlerischer Praxis eingenommen wurden. Diese Themen sollen in Workshops vertieft werden. IV. Reflexionsfigur Puppe. Künstliche Wesen in (der mitteleuropäischen) Literatur und Kunst der Moderne Obwohl Puppen für die künstlerische Selbstreflexion der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Rolle spielen, gibt es dazu erstaunlich wenig systematische Forschung. Ziel des Projektvorhabens ist es deshalb, in einer interdisziplinären Zusammenführung literatur-, kunst-, theater- und filmwissenschaftlicher Perspektiven das Phänomen der Puppe als Reflexionsfigur der Moderne in seiner Vielfalt aufzufächern und auf typologische Verbindungslinien zu befragen. Puppen – so die Grundthese – dienen in der mitteleuropäischen Kunst und Literatur als Reflexionsfigur der Ambivalenzen der Moderne: Indem sie das Mechanische ausstellen, sind sie gleichermaßen Verkörperung des mit der Technisierung einhergehenden Fortschritts wie der drohenden Dehumanisierung und Entfremdung. Anhand von Puppen wird dabei eine Vielzahl von Themen verhandelt und miteinander verknüpft: Anthropologische Grundfragen werden im Verhältnis von Puppe und Mensch gespiegelt. Dazu gehört, da Puppen sich zum Ideal- oder Wunschbild des Körpers gestalten lassen, vielfach auch das Spannungsverhältnis von Bewusstem und Unbewusstem. Eine oftmals magisch oder religiös-metaphysisch aufgeladene, aber auch poetologische Dimension beinhaltet die Thematisierung (künstlerischen) Schöpfertums anhand von Puppen. Eine psychologische Dimension wird besonders in Verbindung mit Erinnerungen an die Kindheit akzentuiert. Zivilisationskritische Reflexionen gelten v.a. dem Automatenhaften von Puppen, spielen aber auch eine Rolle, wenn im Modus des sog. Primitivismus auf die Darstellung von Puppen in der Kunst von Kindern oder von Indigenen rekurriert wird . Dieses gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts virulent werdende Reflexionspotential von Puppen soll herausgearbeitet werden.

Keywords: Apokalypse; Revolution; russische Literatur; Symbolismus; Prag; Feuilleton; tschechische Literatur; Prager deutschsprachige Literatur; Literaturtheorie; Verflechtungsgeschichte; Puppen