Knoop V, Müller KF
Fachbuch (Monographie) | Peer reviewedDas 20. Jahrhundert ist gelegentlich als das Jahrhundert der Biologie, insbesondere der Molekularbiologie, bezeichnet worden. Ob nun in der Tat die Biologie im letzten Jahr- hundert noch größere Fortschritte gemacht hat als andere Wissenschaften, sei dahinge- stellt. Eines aber ist sicher: In der Mitte des 20. Jahrhunderts ist das Gen stofflich fassbar geworden. Wir wissen sehr genau, wie wir uns unsere Erbanlagen vorzustellen haben. Wir kennen ihre chemische Beschaffenheit und wir können die Sprache der Gene in al- len heute lebenden Organismen zumindest prinzipiell lesen. Nicht nur das - im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts haben wir auch gelernt, diese Sprache zu schreiben und in transgenen Organismen durch molekularbiologische Methoden zu verändern.Ein Jahrhundert vor der Entwicklung der Gentechnik hatte ein anderer, zunächst rein theoretischer, Erkenntnisgewinn in der Biologie vergleichbar weitreichende gesellschaft- liche Auswirkungen - wenn auch nicht für den Alltag, so doch für Daseinsphilosophie und Selbstverständnis. Das Konzept der Evolution hat ein biblisch-statisches Bild von der Vielfalt biologischer Arten unwiderruflich vom Sockel gestoßen. Was heute auf der Erde lebt, ist das Ergebnis von 3,5 Milliarden Jahren an biochemischem Probieren, Ver- werfen, Verändern und Anpassen als Antwort auf eine sich verändernde Umwelt unse- res Planeten im weitesten Sinne - klimatisch, chemisch und biologisch. Einiges über die Geschichte des Lebens auf der Erde können wir Fossilfunden entnehmen. Die Vielfalt an Dinosauriern vor ihrem Aussterben vor 65 Millionen Jahren ist anhand ihrer beeindruck- enden versteinerten Skelette gut nachvollziehbar und die Entstehung vieler tierischer Baupläne im Kambrium vor mehr als 500 Millionen Jahren ebenso. In anderen Bereichen aber ist organismische Vielfalt und Veränderung längst nicht so gut mit Fossilien doku- mentiert: Bakterien und andere Einzeller hinterlassen viel seltener deutliche Spuren und auch die Entstehung der ersten Landpflanzen auf der Erde ist nur unzufriedenstellend dokumentiert. Es bleiben die rezenten, heute lebenden Organismen, deren morphologi- sche Merkmale oft jedoch nur vage oder sogar widersprüchliche Rückschlüsse auf die Geschichte ihrer Evolution zulassen.Hier bekommt der Evolutionsforscher mit den Sequenzen biologischer Makromoleküle, sei es mit den DNA-Sequenzen der Gene oder den abgeleiteten Aminosäuresequenzen der Proteine, ein völlig neues Instrumentarium. In diesen Sequenzen ist die Geschichte des Lebens gespeichert. Aus unseren Gensequenzen lässt sich ableiten, ob wir mit Goril- la, Schimpanse oder Orang-Utan am engsten verwandt sind. Auch dort, wo klassische Merkmale rar sind, wie bei den Einzellern, gibt es immer noch Hunderte von Genen mit gleicher Funktion, aus deren schleichenden Sequenzveränderungen wir die Evoluti- onsgeschichte dieser Organismen mit oft erstaunlicher Sicherheit erschließen können. In diesem Buch geht es darum, wie die Erkenntnisse der Molekularbiologie in die Konzepte der Evolution einfließen. Wie also helfen uns die informationsspeichernden Makromo- leküle die Stammesgeschichte des Lebens nachzuzeichnen?Das Interesse an molekularen Stammbäumen kann den unterschiedlichsten Hintergrün- den entstammen. Einige systematisch und taxonomisch arbeitende Biologen bedienen sich seit bald 20 Jahren der zunehmend einfacher zu gewinnenden molekularen Se- quenzdaten, um die Stammesgeschichte und Evolution der Organismengruppen, die ihnen am Herzen liegen, zu verstehen. Für dahingehend Interessierte halten die Da- tenbanken vielleicht schon ein noch schlummerndes Potential bereits verfügbarer in- teressanter Sequenzen bereit. Molekularbiologen wiederum wollen vielleicht mit der evolutiven Entstehungsgeschichte der Proteine, Gene oder Genfamilien ihres Interesses mehr Einsichten über deren Funktion gewinnen - möglicherweise ist im Hinblick auf eine Publikation ein Genstammbaum gefragt.Dem Biologiestudenten mag schlicht die interessante Schnittstelle von Molekularbiolo- gie und Bioinformatik als einer der spannendsten Bereiche seines Faches erscheinen. Der Zugang in die Welt der molekularen Phylogenetik scheint jedoch vielen beschwerlich. Außer einem Verständnis für die Molekularbiologie braucht es Datenbanken, Computer, Programme und zum tieferen Verständnis auch etwas Mathematik, und zumindest einer dieser Bereiche schreckt manche interessierten Biologen und Biologiestudenten ab. Die verschiedenen Ansätze, Methoden und Modelle zur Stammbaukonstruktion mit mole- kularen Sequenzdaten lassen die Materie oft zu theoretisch erscheinen, als dass sie zu forscherischer Tätigkeit motivieren würden. Die eher unfruchtbaren Gefechte zwischen den Befürwortern der einen gegenüber der anderen phylogenetischen Methodik machen den Zugang auch nicht leichter.Wir wollen in diesem Buch zum Learning-By-Doing motivieren, ohne dabei die Grundla- gen zu vernachlässigen. Die interessierten Leser sollen einen klaren Leitfaden zum Um- gang mit Datenbanken und Programmen an die Hand bekommen, mit dem sie selbst schnellstmöglich loslegen können. Der ungeduldige Student mit biologischem Wissens- hintergrund mag Kapitel 1 bis 3 überspringen und gleich bei 4 einsteigen. Das Buch könnte nach dem Studium der Grundlagen seinen Platz direkt neben dem PC finden und helfen, mit eigenen Sequenzdaten oder solchen aus den Datenbanken Alignments zu produzieren, Methoden auszuprobieren, Parameter zu verändern und gute Stamm- bäume zu produzieren - oder auch nur den kritischen Blick auf die publizierten Stamm- bäume der Kollegen schärfen. Wir hoffen, dass Index, Glossar und Verweise auf die Ori- ginalliteratur es auch als Nachschlagewerk nützlich machen. Andererseits wollen wir hier und da auch zur Erkundung neuer Terrains motivieren, denen wir uns hier nicht in größerer Breite widmen können. Insofern bleibt zu hoffen, dass wir mit dem hier gewählten Kompromiss im Spannungsfeld zwischen Umfang und Preis nicht völlig da- nebenliegen.Molekulare Phylogenetik ist vielleicht noch mehr als andere Bereiche der modernen Bio- logie von Jargon und englischen Fachtermini dominiert. Wir bemühen uns hier nach be- scheidenen Kräften um die deutsche Sprache, wenn auch nicht auf Kosten des Wiederer- kennungswertes in der Literatur. So wird dann das „Alignment" für uns als das Ergebnis einer Alinierung übernommen, aber den feinsinnigen Unterschied zwischen Probability und Likelihood wollen wir nicht mit deutschen Wahrscheinlichkeiten verwässern.
Müller, Kai | Arbeitsgruppe Evolution und Biodiversität der Pflanzen (Prof. Müller) |