Transkulturelle Perspektiven auf Gerechtigkeit

Sonderheft einer Fachzeitschrift

Zusammenfassung

In einer global interdependenten Welt mit vielen Menschen, deren Lebenswege durch Migrationsgeschichten und die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturen geprägt sind, erscheint die Annahme, dass es kulturspezifische Gerechtigkeitsvorstellungen gibt, nicht sehr plausibel. Denn wie kann es sein, dass sich grundlegende Werte verändern, sobald wir eine nationale Grenze überschreiten oder von einem Kontinent auf einen anderen fliegen? Letzteres ist intuitiv nicht einsichtig, gerade, wenn es sich um sehr grundlegende Fragen der Normativität handelt. Es erscheint unsinnig, dass eine Praxis in Berlin als zutiefst entwürdigend und diskriminierend bewertet wird, sie aber in Nairobi angemessen sein sollte. Wie aber finden wir heraus, welches das gemeinsame Fundament ist, auf dem wir transnational und transkulturell moralphilosophische Werturteile fällen können? [1] Wie führen wir innerhalb der Philosophie Debatten über globalen Normen, die der Pluralität und Heterogenität dieser geteilten Welt gerecht werden? Und wie bewahren wir uns davor, in paternalistische, bevormundende Diskurse zu verfallen? Und wer oder konstituiert eigentlich dieses „Wir“, wen inkludiert es und wen schließt es aus? Diesem Fragenkomplex widmet sich der folgende Schwerpunkt der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Die hier versammelten Beiträge gehen auf ein Symposium am 5. und 6. Dezember 2019 in Münster zurück, dass sich mit nicht-westlichen Perspektiven auf Normativität befasste und auf einen transkulturellen, mehrstimmigen Dialog über Gerechtigkeit zielte. [2] Versammelt waren Vertreterinnen und Vertreter der Philosophie aus dem europäischen, arabischen und afrikanischen Raum. Das Symposium verstand sich als Antwort auf Kritik seitens von Vertreterinnen und Vertretern der Postkolonialen Theorie und der Critical Philosophy of Race, die der europäischen Philosophie Blindheit gegenüber den Ausschlussmechanismen und Rassismen der eigenen Tradition und Geschichtsvergessenheit gegenüber Imperialismus, Sklaverei und (anhaltender) wirtschaftlicher Ausbeutung vorwerfen. McCarthy (2015), Mills (2017) u. Zack (2016)." tabindex="0">[3] Die politischen Machtasymmetrien zwischen unterschiedlichen Regionen der Welt schreiben sich auf einer epistemischen Ebene fort, so die These dieser kritischen Stimmen. Dadurch entständen neue Formen der kognitiven und epistemischen Ungerechtigkeit, die rekursiv wiederum auf bestehende ökonomische und politische Formen der Benachteiligung zurückwirkten. de Sousa Santos 2007), während sich epistemische Ungerechtigkeit vornehmlich auf einzelne Akteure und deren unterschiedliche Glaubhaftigkeit und Möglichkeit, ihren eigenen Erfahrungen Ausdruck zu verleihen, bezieht. Letzteres ist in strukturelle Machtverhältnisse eingebettet (Fricker 2007). " tabindex="0">[4] Betrachtet man beispielsweise die Quantität und Wirkmacht der Publikationen zu Themen der globalen Gerechtigkeit und Armut, so zeigt sich ein starkes Gefälle der Sichtbarkeit zwischen Interventionen aus dem angelsächsisch-europäischen Raum und solchen aus dem globalen Süden. Dübgen (2020). " tabindex="0">[5] Dies hat wiederum Implikationen für die Ausrichtung von Entwicklungspolitik, für das Selbstverständnis von „Gebern“ und „Nehmern“ von Transferzahlungen und für den Fokus in der Armutsbekämpfung internationaler politischer Institutionen. Kapoor (2008). " tabindex="0">[6] Als zentralen Begriff widmet sich diese Ausgabe dem Konzept der Gerechtigkeit, das seit dem Erscheinen von John Rawls’ bemerkenswerten Buch A Theory of Justice im Jahr 1971 eine steile Karriere innerhalb der Praktischen Philosophie gemacht hat und auch verschiedene Wellen der Kritik hervorrief. Diese Kritik wurde zunächst in den 1980er Jahren von feministischer Seite, etwa ein Jahrzehnt später auch durch die Critical Philosophy of Race und seit den 2000ern von der postkolonialen Theorie befördert. Okin (1989); Boxill (1992); Mills (2017); sowie Dhawan (2009)." tabindex="0">[7] Gerechtigkeit wurde als Angelpunkt gewählt, weil sie einen wichtigen Leitbegriff der politischen und Moralphilosophie darstellt, gesellschaftspolitisch höchst umkämpft ist und innerhalb einer liberal geprägten normativen Debatte derzeit quasi dominiert.

Details zur Publikation

Veröffentlichungsjahr: 2020
Sprache, in der die Publikation verfasst istDeutsch
Link zum Volltext: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2020-0060/pdf