EXC 212 C2-12 - Mitgliedschaft und Zugehörigkeit: Verein, Stadt und Reichsreligion in der Antike

Grunddaten zu diesem Projekt

Art des Projektes: Teilprojekt in DFG-Verbund koordiniert an der Universität Münster
Laufzeit: 01.11.2012 - 31.12.2018 | 1. Förderperiode

Beschreibung

In der zweiten Clusterphase werden auf der Grundlage der Ergebnisse der ersten Phase und unter Heranziehung teils des bisher erschlossenen, teils neu zu erschließender Quellengruppen Inklusions‑ und Exklusionsmechanismen, Eintrittsrituale sowie auch in Ansätzen Ausschluss‑ und Wiederaufnahmeverfahren untersucht. übergeordnete Fragestellungen betreffen das antike Vereinswesen in seinem Verhältnis zur Stadt sowie die Entwicklung des Christentums vom auf Vereinsbasis organisierten Kult zur Reichsreligion. Die Untersuchungen zum Vereinswesen wird in erster Linie Benedikt Eckhardt vornehmen, während das christliche und rabbinische Material vom Projektleiter bearbeitet wird. (1 Vereine/Collegia) Das antike Vereinswesen bildet den Ausgangspunkt der Analysen. Es ist die Frage zu bearbeiten, welche Bedeutung der Mitgliedschaft in Vereinen aus einer historisch-soziologischen Perspektive für die Beschreibung der griechisch-römischen Antike zukommt. Strukturen des Vereinswesens werden unter anderem dazu verwendet, Judentum und Christentum vor allem vor dem 4. Jahrhundert in konkreten, sozialen Einheiten zu beschreiben. So können die aus der heutigen Zeit in anachronistischer Weise zurückprojizierten Abstraktionen („Juden" und „Christen") vermieden werden. (2) über den Verein hinausgehende Strukturen sind vor allem in der Zeit vor Konstantin von hoher heuristischer Relevanz. (2.1 Verein und Stadt) Das Verhältnis von Mitgliedschaft im Verein zur Mitgliedschaft in Polis, Ethnos und Großreich wird zunächst anhand von Performanzen untersucht. In der Stadt wie im Verein gibt es Eintrittsverfahren, Verfahren zur Amtseinsetzung, Opferkult und Gemeinschaftsmahl. Die Nachahmung einer größeren Einheit (etwa einer Polis), die sich z.B. auf die übernahme von Amtsbezeichnungen und die Nachahmung offizieller Publikationsweisen erstreckt, steht in einem Spannungsverhältnis zu der Beobachtung, dass im Vereinskontext Götter verehrt werden können, die im offiziellen Stadtkult nicht vorkommen, und Menschen zusammenkommen, die nach geltender Norm außerhalb des Vereins nichts miteinander zu tun hätten. Das Projekt beschreibt historische Beziehungen zwischen Vereins‑ und Stadtorganisation. (2.2 Netzwerke) In regelmäßigem Austausch mit dem Projekt von Engelbert Winter sollen daraufhin Netzwerke von Vereinen und ihre Beziehungen zu religiösen Zentren untersucht werden. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Anhängern von Jupiter Dolichenus, den Judäern in ihrer Bezogenheit auf den nach 70 zerstörten, zuvor jedoch sehr wirksam und in der Diaspora auch spürbar funktionierenden Tempel in Jerusalem, den Anhängern des Mithras (die sich schon in der Antike durch einen vielleicht fiktiven Bezug zu Persien profilieren) sowie den Christen sind anhand eines Modells konkurrierender Netzwerke von Vereinen zu untersuchen. Bereits an dieser Stelle zeigt sich, dass zwar nur griechisch-römischer Kult auf allen Ebenen zwischen Stadt, später Imperium, und Haus bzw. Einzelperson Einflüsse hat. Dennoch transzendieren auch andere Kulte die Ebene des Vereins, auch wenn sie noch nicht als öffentliche und als kollektiv gedeutete Praxis der Stadt verstanden werden. Weiterführende Fragestellungen greifen über den Forschungsstand hinaus. Seit den 1990er Jahren wird zu Vereinen verstärkt mit religionsgeschichtlichem Interesse, unter Einbeziehung von Judentum und Christentum sowie auf der Basis der Hypothese einer mediterranen Einheitskultur, die an die Stelle früherer Unterscheidungen zwischen römischem und griechischem Vereinswesen tritt, gearbeitet. In das so vereinheitliche Konzept eines so genannten „antiken Vereinswesens" werden die oben angeführten orientalischen Kulte eingebettet, um Fragen nach Verbreitungswegen, Expansionsmöglichkeiten und sozialer Stellung der jeweiligen Kulte zu beantworten. Das Projekt soll einen Beitrag zu dieser Debatte zunächst dadurch leisten, dass anhand des gesamten zur Verfügung stehenden Materials Grundpositionen der Forschung überprüft werden, wobei regionale Besonderheiten berücksichtigt werden und der forschungspraktischen Bedeutung einer typologischen Erfassung unterschiedlicher Vereinsformen Rechnung getragen wird. Die oft auf wenige bekannte Inschriften fokussierte Debatte soll durch die Nutzung einer im derzeitigen Clusterprojekt im Aufbau befindlichen vollständigen Datenbank der erhaltenen Inschriften neue Impulse erhalten. (3) Aus christlicher Perspektive führen die Entwicklungen des 4. Jh. auf eine neue Ebene der Repräsentation und der kollektiven Praxis. Nach wie vor fordert Boyarins Ansatz zu einer Debatte über die antiken Kategorien von Volk und Religion (unter Einbezug der bei Boyarin nicht behandelten Ebene der Vereine) heraus. Verschiedene Diskurse - kultisch, philosophisch, politisch, juristisch, genealogisch (deszendenzanzeigend) - benützen und modifizieren Vorstellungen von „Volk". Sie machen „Volk" zu einem Gesamtkonzept. So wie der Verein sich als Volk im Kleinen verstehen konnte (und die Gemeinschaft der Vereinsmitglieder sich auch mit „Volk" bezeichnen konnte), musste im Christentum nun der Schritt vom Verein im Großen hin zu einer das Leben der Stadt und des Imperiums mitbestimmenden Größe unternommen werden. Vereine können natürlich durch ihre Partizipation an größeren Netzwerken aus heutiger Sicht als „ethnische Gruppen" gedeutet werden, auch wenn sie sich selbst nicht als ethnos bezeichnen würden. In diesem Bereich der Projektarbeit ist eine große Fülle von gut zugänglichen Quellen zu den Ritualen und ihrer Deutung heranzuziehen und im Dialog mit der jüngsten Forschung - sowie den Arbeiten von Benedikt Eckhardt - neu zu deuten. Innerhalb der Projektarbeit selbst werden bereits Ergebnisse aus der Alten Geschichte, Judaistik und Liturgiewissenschaft mit Hypothesen der Soziologie in Beziehung gesetzt. Da die Soziologie (und hier speziell die Or­ga­ni­sa­tions­so­zio­lo­gie) das antike Vereinswesen in die bisher vorgelegten Modelle zum Zu­sam­men­hang von Organisation und Differenzierung nicht einbezogen und umgekehrt die Forschung zum Vereinswesen nicht mit systemtheoretischen Modellen gearbeitet hat, liegt hier bislang ungenutztes Potenzial. Zu fragen ist z.B., ob die Theorie einer evolutionär verlaufenden Differenzierung die Entwicklung des antiken Vereinswesens - unter anderem auch in das 4. Jh. hinein - erklären kann und inwiefern sie zu neuen Einsichten über die historischen Daten führt. So könnte die Christianisierung des römischen Reiches, in deren Verlauf ein ursprünglich im Vereinskontext praktizierter Kult samt Ethik und Gesetzesvorschriften in vorher ungekannter Weise verbindlich wird, als historisches Beispiel eines Entdifferenzierungsprozesses gefasst werden.

Stichwörter: Verein; Stadt; Polis; Reichsreligion; Antike; Christentum; Initiationsritual; Alte Kirche; Judaistik; Integrationsverfahren; Exklusion; Zugehörigkeit; Netzwerke; Differenzierung