Gärtner, Christel
Forschungsartikel (Buchbeitrag) | Peer reviewedNicht nur Religion, wie wir sie kennen, sondern auch unser Verständnis von Religion bzw. Religiosität hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert. Das dominante Erklärungsmodell für den religiösen Wandel im 20. Jahrhundert stellt zweifelsohne die Säkularisierungstheorie dar. Diese beruht auf empirisch belegten Daten wie dem Rückgang der kirchlich gebundenen Religiosität und religiösen Praxis. Auch Jürgen Habermas, der heute vor allem für den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ steht, einer Gesellschaft, in der Religionsgemeinschaften in einem sich ständig säkularisierenden Umfeld weiterbestehen werden, hat selbst lange die These vertreten, dass religiöse Denkweisen und Lebensformen in einem „fortschreitenden Prozess der Säkularisierung“ durch vernünftige oder überlegene Äquivalente ersetzt werden. Dass dieses Verständnis von Säkularisierung heute kaum noch vertreten wird, liegt vor allem daran, dass die weltweite Religionsentwicklung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, dass das Verhältnis von Modernität, Säkularität und Religiosität viel komplexer ist als die klassische Säkularisierungstheorie angenommen hat. An deren Stelle ist die Einsicht getreten, dass die Moderne sich sowohl durch Pluralität im Bereich des Religiösen wie durch Pluralität im Bereich des Säkularen auszeichnet. Insbesondere die neuere Weber-Interpretation wendet sich gegen eine einseitig rationalistische Lesart seines Säkularisierungskonzepts und stärkt die These, dass die Moderne strukturell zwar säkularisiert, empirisch jedoch weiterhin durch religiöse Sinnorientierungen und Handlungswirklichkeiten geprägt sein kann. Der Fakt, dass moderne Gesellschaften prinzipiell säkularisiert sind, schließt also religiöse Lebensformen und Sinnorientierungen nicht generell aus. Diese verändern sich aber, wenn sich der gesellschaftliche Kontext wandelt
Gärtner, Christel | Exzellenzcluster 2060 - Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation |