Leonhard Clemens
Forschungsartikel (Buchbeitrag) | Peer reviewedBibeltexte kommen in der Liturgie an vielen Stellen in unterschiedlich ritualisierter Form vor. Die Inszenierung macht die Heiligkeit der Heiligen Schrift unbezweifelbar. Die Mehrdeutigkeit liturgischen Handelns stellt aber sicher, dass die Grenzen zwischen Herstellung und Darstellung der Heiligkeit der Heiligen Schrift unklar bleiben. Die Feier der Liturgien (als Praxis und nicht als Rede über Praxis) und die Heiligkeit der Heiligen Schrift bleiben aufeinander verwiesene, nicht-reduzierbare Kategorien. Juden und Christen inszenieren die Heiligkeit der Heiligen Schrift in ihren Liturgien. In den konkreten Liturgien hat nicht nur der vorgetragene Text, sondern auch sein Trägermaterial (Buch, Rolle, Zettel, Bildschirm etc.) eine wichtige Funktion. Sie deuten die Abstufung der Heiligkeit innerhalb des Kanons der Heiligen Schriften auf mannigfaltige Weise an. Die Heiligkeit der Heiligen Schrift kann im Blick auf deren Inszenierung in der Liturgie und ihre Interpretation mit dem Kriterium der Gegenwart Gottes oder Christi durch die Worte der Lesungen diskutiert werden. In diesem Horizont hat Ruth Langer darauf aufmerksam gemacht, dass die jüdische Toralektüre mit der Eucharistiefeier (und nicht mit dem katholischen Wortgottesdienst) zu vergleichen ist. Diese beiden Ritualelemente eröffnen den Raum zum vergleichenden Gespräch über die Gegenwart Gottes beziehungsweise Christi in den Liturgien. Die Tatsache, dass die Feier der Eucharistie den Vorsitz eines Priesters oder Bischofs voraussetzt, führt zusammen mit den gegenwärtigen Debatten über Wort-Gottes-Feiern am Sonntag zu einer unbezweifelbaren und konkret erfahrbaren Höherbewertung der Gegenwart Christi im Priester und in den konsekrierten Gaben gegenüber seiner Gegenwart in der Heiligen Schrift. Die Eucharistieenzyklika von Paul VI. zieht hier gegen den Platonismus von Sacrosanctum Concilium 7 und 8 gerichtete Denkkategorien ein. Diese selbstverständlich in den Habitus der Katholikinnen und Katholiken eingeschriebene Differenz der Heiligkeit erklärt auch andere Eigenschaften von Liturgie und Kirchenraum beziehungsweise Synagoge. Dem Toraschrein entspricht bei aller Unähnlichkeit im Hinblick auf die Inszenierung von Heiligkeit der Tabernakel. Für das Gespräch innerhalb der katholischen Kirche gilt weiterhin das Desiderat einer Vermeidung von Stellvertreterdebatten. Es sollte über die Zukunft der institutionellen Beziehungen zwischen Priestern und Laien und nicht über Förderung oder Verbot von Wort-Gottes-Feiern am Sonntag gesprochen werden. Gegenüber Katholikinnen und Katholiken, die sich an die Feier der Messe als Teil ihres Lebens gewöhnt haben, möge derzeit nicht von einer Ähnlichkeit der Heiligkeit des Wortes Gottes und der Gegenwart Christi in der Lesung der Heiligen Schrift mit der Gegenwart Christi durch den Priester und die konsekrierten Gaben - und schon gar nicht von einer analogen Würde der Toralesung im Judentum und der Lesungen in der katholischen Kirche - gesprochen werden. Solche Vergleiche sind so lange unzulässig, wie kirchliches Handeln und Sprechen außerhalb und innerhalb der Liturgie, explizit und implizit das Gegenteil voraussetzen. Bevor in diesem Feld Positionen und Ängste offen angesprochen werden, werden Überlegungen über Liturgie und Heiligkeit der Heiligen Schrift nicht weiterkommen.
Leonhard, Clemens | Professur für Liturgiewissenschaft (Prof. Leonhard) |