Die Deutung des Weihwassers im Mittelalter und ihre Bedeutung für Feiern des Taufgedächtnisses in der Gegenwart

Leonhard Clemens

Forschungsartikel (Zeitschrift) | Peer reviewed

Zusammenfassung

Der rituelle Einsatz von Weihwasser war in der zur Debatte stehenden Epoche des Mittelalters weit verbreitet ‎und wird in den gelehrten Interpretationen durchgehend apotropäisch, exorzistisch, heilend, reinigend etc. ‎gedeutet.‎ Manche Interpretationen nehmen auf die Taufe Bezug. Im Kontext der Diskussion der Wirkung des Weihwassers ‎meinen Hinweise darauf, dass der liturgische Einsatz von Weihwasser ein „Erinnerungszeichen an die Taufe" (o. ‎ä.) sei, nicht dass der Vollzug der Rituale mit einem Gedenken der Taufe verbunden sein soll, sondern ‎unterstützen die metaliturgische Erklärung dieser Wirkungen. Wer sich in diesem Sinn heute auf mittelalterliche ‎Assoziationen zwischen Taufe und Wasserbesprengung berufen wollte, müsste z.B. mit Thomas von Aquin die ‎Wasserriten als Taufexorzismusgedächtnis und die Buße als Taufgedächtnis erklären.‎ Nachdem manche Interpreten über Bedeutungen vor allem der als wirkungslos betrachteten Ritualelemente ‎nachdenken, können Ihre Ausführungen dahingehend gelesen werden, dass man beim Vollzug der ‎Besprengungen an die Taufe denken sollte. Solche Überlegungen zur Bedeutung der Rituale reihen sich in die ‎Fülle allegorischer Deutungen ein, die zu jeder Sache und jeder Handlung im Kontext der Liturgie eine oder ‎mehrere Deutungen bereitstellen. Wer sich auf die mittelalterlichen Deutungen in diesem Sinn berufen wollte, ‎könnte heute jeden Tropfen Wassers, der in einer Liturgie erscheint, als Gedächtniszeichen der Taufe erklären, ‎müsste aber dazusagen, dass in diesem Paradigma und mit ebenderselben Dignität auch z.B. das Schuhwerk des ‎Bischofs beim Pontifikalamt zu deuten wäre.‎ Die mittelalterlichen Autoren haben „Taufgedächtnis" grundlegend anders verstanden, als dies heute gilt. ‎Insofern ist das Ritualelement des Taufgedächtnisses als Beginn der Messe am Sonntag gegenüber den ‎mittelalterlichen Aspergesprozessionen innovatorisch, obwohl in diesen Feiern seit mehr als tausend Jahren ‎Menschen mit Wasser besprengt werden. Kriterien von wirksam und wirkungslos ermöglichen die Entwicklung ‎von ökumenischen Taufgedächtnisfeiern. Sie kommen deswegen als Ersatz für die gemeinsame Feier der ‎Eucharistie oder der Taufe in Frage, weil ihre Ritualelemente als jung, wirkungslos und vieldeutig verstanden ‎werden.‎ Obwohl den christlichen Autoren der Antike Lustrationen mit Wasser als mit dem Christentum unvereinbar ‎erschienen, war seine apotropäische Verwendung und deren Deutung im Mittelalter state of the art höchster ‎Theologie und nicht nur angeblich abergläubischer Volksfrömmigkeit. Dem stehen heute andere Ansätze ‎gegenüber, die von der mittelalterlichen Auffassung nichts wissen wollen. Die Untersuchung der Verwendung ‎von Weihwasser fordert heraus, über Vorstellungen zur Vertreibung von Dämonen, Lustration, Taufgedächtnis, ‎Heilung, Sündenvergebung und deren Bedeutungen oder Wirkungen für die Liturgie der Gegenwart ‎nachzudenken. Sie legt nahe, auf die Vorstellung eines normativen Zeitalters zu verzichten und an die Stelle der ‎Traditionsbeweise, wie sie in der Gegenwart in Publikationen zutage treten, Bemühungen eines möglichst ‎umfassenden Verständnisses der Zeugnisse der Vergangenheit zu setzen.‎

Details zur Publikation

Jahrgang / Bandnr. / Volume54
Seitenbereich9-34
StatusVeröffentlicht
Veröffentlichungsjahr2015 (19.11.2015)
Sprache, in der die Publikation verfasst istDeutsch
StichwörterTaufgedächtnis; Ökumene; Theologie; Liturgie; Weihwasser; Osternacht; Ostern; Benediktionen; Taufe; Baptism; Memorial; Ecumenism; Liturgy; Theology; Baptismal Water; Taufwasser; Easter; Initiation; Sacraments; Sakramente; Sacramentals; Sakramentalien; Interpretation of Liturgies; Liturgieinterpretation; Wilhelm Durandus

Autor*innen der Universität Münster

Leonhard, Clemens
Professur für Liturgiewissenschaft (Prof. Leonhard)